Ein Artikel von Dr. David H. Bailey, Mathematiker und Computerwissenschaftler
Am 20. Dezember 2022 veröffentlichte Bloomberg [1] die Ergebnisse seiner jährlichen Umfrage unter führenden Marktprognostikern. Der Konsens: "Investoren, die bereit sind, das schlimmste Jahr für Aktien seit der globalen Finanzkrise hinter sich zu lassen, sollten sich auf weitere Schmerzen im Jahr 2023 einstellen."
Insbesondere das durchschnittliche Ziel von 22 von Bloomberg am 20. Dezember 2022 befragten Prognostikern war, dass der S&P500-Index der US-Aktien im Dezember 2023 bei 4078 schließen würde, oder mit anderen Worten mit einem bescheidenen Anstieg von 6,2 % gegenüber dem Schlussstand vom Dezember 2022 (3839,50). Dieser Anstieg von 6,2 % lag in der Mitte zwischen der pessimistischsten Prognose eines Rückgangs von etwa 11 % und der optimistischsten Prognose eines Anstiegs von etwa 24 % (diese Zahlen wurden leicht angepasst, um den Schlusskurs vom 31. Dezember 2022 zu berücksichtigen).
Zu diesem Zeitpunkt hatten zahlreiche Analysten offen eine deutliche Rezession vorausgesagt [2]. Barclays Capital sagte voraus, dass das Jahr 2023 als "eines der schlimmsten für die Weltwirtschaft in vier Jahrzehnten" in die Geschichte eingehen wird. Fidelity International erklärte, dass eine harte Landung "unvermeidlich" sei. Das Analystenteam von J.P. Morgan ging davon aus [3], dass der S&P 500 "auf die Tiefststände von 2022 zurückfallen wird, bevor eine Wende der Fed eine Erholung in der zweiten Jahreshälfte einleitet". Der oben erwähnte Bloomberg-Artikel enthielt ein von Bloomberg-Mitarbeitern erstelltes Diagramm zur technischen Analyse mit dem Titel "Abwärtstrend intakt / US-Aktien konnten die Trendlinie nicht überwinden, die frühere Bärenrallyes begrenzt hatte".
Schlagzeilen
In diesem Sinne sind hier einige der wichtigsten Nachrichten von Ende 2022 und 2023 aufgeführt:
- Im November 2022 verblüffte der plötzliche Zusammenbruch von FTX, der sich innerhalb weniger Tage ereignete, die Kryptoindustrie, die sich lange Zeit als Hightech-Mittel zur Vermeidung des Risikos traditioneller Banken beworben hatte. [4]
- Im Dezember 2022 erhöhte die US-Notenbank, trotz der Bitten von Politikern und Investoren um Gnade, die Federal Funds Rate um 50 Basispunkte, gefolgt von 25 Punkten im Februar 2023 und 25 Punkten im März 2023. [5]
- Am 10. März 2023 brach die Silicon Valley Bank, ein Kreditgeber für viele Technologieunternehmen, nach einem plötzlichen Bank Run zusammen. Bald darauf folgte der Schweizer Bankenriese Credit Suisse. [6]
- Als die ehemalige Theranos-CEO Elizabeth Holmes rechtliche Schritte einleitete, um ihre 11-jährige Haftstrafe zu verkürzen, fragten sich viele Analysten, wie viele andere Tech-Firmen aus dem Silicon Valley mit "Fake it till you make it"-Behauptungen unterwegs waren. [7]
- X (früher bekannt als Twitter) ging unter, nachdem es von Elon Musk aufgekauft wurde. Microsoft entließ 10.000 Mitarbeiter. Meta, die Muttergesellschaft von Facebook, entließ 10.000 Mitarbeiter. Google entließ 12.000 Mitarbeiter per E-Mail. [8]
- Große Städte in den USA und anderswo mussten einen enormen Anstieg des Leerstands von Büroflächen hinnehmen, der die Zahlungsfähigkeit von Gewerbeimmobilien bedroht. In San Francisco stieg der Büroleerstand auf 30 %. [9]
Eine Bewertung der Prognosen vom Dezember 2022 im Dezember 2023
Obwohl das Jahr 2023 noch nicht ganz vorbei ist (Stand diese Beitrages: 23. Dezember 2023), ist es an der Zeit, die Genauigkeit der von Bloomberg im Dezember 2022 erstellten Prognosen zu bewerten und die Ergebnisse des laufenden Jahres mit denen der Vorjahre zu vergleichen. Wie lautet das Urteil? Wie der Economist [10] erklärt: "Die Aktionäre hatten ein bemerkenswert gutes Jahr. Die Prognostiker haben ein schreckliches Jahr hinter sich". Jeff Sommer von der New York Times [11] stellt Folgendes fest:
- Am 23. Dezember 2023 steht der S&P 500 bei 4754,63 und liegt damit beeindruckende 23,8 % über dem Schlusskurs vom Dezember 2022 (3839,50), was einen gewaltigen Abstand von 17,6 Prozentpunkten zur oben erwähnten Konsensprognose vom Dezember 2022 von 6,2 % bedeutet.
- Im Jahr 2022 lag die Durchschnittsprognose bei einem Anstieg von 3,9 %; der tatsächliche S&P 500 verlor 19,4 %, was einer Differenz von satten 23,3 Prozentpunkten entspricht.
- Für 2018 wurde ein durchschnittlicher Anstieg von 7,5 % prognostiziert; der tatsächliche S&P500 fiel um 6,9 %, was einer Differenz von 14,4 Prozentpunkten entspricht.
- Im Jahr 2008 lag der Median der Prognosen bei einem Anstieg von 11,1 %; der tatsächliche S&P500 fiel um 38,5 % - ein erschütternder Fehler von 49,6 Prozentpunkten.
- Auf der Grundlage von Daten, die kürzlich von Paul Hickey von der Bespoke Investment Group bis 2023 aktualisiert wurden, fand Sommer heraus, dass von 2000 bis 2023 der Median der Wall Street-Prognose sein Ziel um durchschnittlich 13,8 Prozentpunkte verfehlte.
Somer [11] kommt zu dem Schluss: "Wall-Street-Strategen machen trotzdem Vorhersagen, trotz einer Erfolgsbilanz, die in ihrer Ungeschicklichkeit außergewöhnlich ist."
Denitsa Tsekova, Carly Wanna und Lu Wang von Bloomberg [12] gingen auf das weit verbreitete Scheitern der Prognosen insbesondere für das erste Halbjahr 2023 ein:
Die Aktien erholten sich, obwohl ihr Absturz vorhergesagt wurde, die erwarteten Anleihegewinne verpufften, und die Rezession kam nicht. ... Landauf, landab an der Wall Street wurden die Prognostiker von der Entwicklung der ersten Hälfte des Jahres 2023 auf den Finanzmärkten überrumpelt.
Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger und Kolumnist der New York Times, fügte hinzu: "Ich kann mich an kein anderes Beispiel erinnern, bei dem ein derartiger allgemeiner Konsens darüber herrschte, dass eine Rezession unmittelbar bevorstand, und die vorhergesagte Rezession dann doch nicht eintrat." [13]
In diesem Sinne analysierte Nir Kaissar [14] eine Reihe von Prognosen von Marktprognostikern über einen Zeitraum von 17 Jahren von 1999 bis 2016. Er fand heraus, dass es zwar eine bescheidene Korrelation zwischen der durchschnittlichen Prognose und dem Jahresendkurs des S&P 500-Index für das jeweilige Jahr gab, diese Prognosen aber bei größeren Marktveränderungen überraschend unzuverlässig waren. So stellte Kaissar beispielsweise fest, dass die Strategen den Jahresendkurs des S&P 500 in den drei Rezessionsjahren 2000 bis 2002 um durchschnittlich 26,2 Prozent überschätzten, während sie den Indexstand im ersten Erholungsjahr 2003 um 10,6 Prozent unterschätzten. Ein ähnliches Phänomen wurde im Jahr 2008 beobachtet, als die Strategen in seiner Studie den Jahresendstand des S&P 500 im Jahr 2008 um satte 64,3 Prozent überschätzten, den Index dann aber für die erste Hälfte des Jahres 2009 um 10,9 Prozent unterschätzten. Mit anderen Worten, wie Kaissar beklagte (unabhängig von Hickey, Sommer und anderen), waren die Prognosen am wenigsten nützlich, als sie am wichtigsten waren. [15]
Unsere Analyse der Marktprognostiker
Im Jahr 2017 hat der Autor zusammen mit drei weiteren Kollegen eine Analyse der Aufzeichnungen prominenter US-Marktprognostiker durchgeführt [16]. Für diese Studie haben wir eine 2013 von der CXO Advisory Group durchgeführte Studie [17] erweitert, in der 68 Prognostiker eingestuft wurden. Wir analysierten diese 68 Prognostiker anhand von zwei zusätzlichen Faktoren: (a) der Zeitrahmen der Prognose (Prognosen werden kategorisiert als bis zu einem Monat, bis zu drei Monaten, bis zu neun Monaten oder über neun Monate hinaus); und (b) die Bedeutung und Spezifität der Prognose.
Die Ergebnisse unserer Analyse sind in diesem technischen Dokument enthalten [18]. Die durchschnittliche Punktzahl lag bei 48 %, d. h. sie unterschied sich nicht wesentlich vom Zufall. Unter den 68 Prognostikern in unserer Studie waren 27, die bei ihrer Arbeit die technische Analyse einsetzen. Wie gut schnitten nun diese 27 technischen Analysten ab? Ihr durchschnittliches Vorhersageergebnis lag bei 44,1 % und damit etwas niedriger als der Durchschnitt aller 68 Prognostiker in unserer Studie. Mit anderen Worten: Diese Daten liefern keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Prognostiker besser als der Zufall voraussagen können. Wenn überhaupt, müssen unsere Ergebnisse aufgrund des bekannten Phänomens des Survivorship Bias [19] eher optimistisch ausfallen - sehr wahrscheinlich sind zahlreiche erfolglose Prognostiker aus dem Geschäft ausgestiegen und daher in unseren Daten nicht enthalten.