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04
2021

Nullzinskrise bei den Lebensversicherungen. Teil 2: Wie steht es um die Branche?

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Je nachdem, wie die Solvenz der Versicherer berechnet und interpretiert wird, sind teils unterschiedliche Einschätzungen möglich. Die offizielle, regulatorisch relevante Version stellte vorerst ein insgesamt solides Zeugnis aus.

Negative Presse

Beim Thema Lebensversicherung mangelt es hierzulande nicht an negativer Presse. So ist in Fachkreisen der Bund der Versicherten (BDV) für seine Kritik bekannt, die sich in der Aussage „Die Lebensversicherung zur Altersvorsorge ist legaler Betrug“ zusammenfassen lässt. [1] Mit der Einschätzung, dass sich mit klassischen Lebensversicherungen heute kein Blumentopf mehr gewinnen lässt, wird der BDV seiner Verbraucherschutzrolle gerecht. Das muss aber nicht heißen, dass die Versicherer selbst schlecht dastehen.

Höchstrechnungszins Deutschland
Bild 1) Höchstrechnungszins in Deutschland im Zeitablauf
Versicherer dürfen maximal Garantien auf dem Niveau des Höchstrechnungszinses anbieten, der seit 2017 bei 0,9 Prozent liegt. Das soll sicherstellen, dass sich die Gesellschaften nicht übernehmen. Da hohe Garantien bei den Kunden aber (verständlicherweise) gefragt sind, beeinflusst das auch den Wettbewerb.
Quellen: Brechtel, U. (2017), Wikimedia, Lizenz CC BY-SA 3.0; GDV; BMF

Das Problem scheint letztlich die etwas verfahrene Diskussion zu sein, in der die Solvenz der Versicherer einerseits und der Verbraucherschutz andererseits vermischt werden. [2] Es geht also um unterschiedliche Themen und teils gegenläufige Interessen. Zu behaupten, dass die Lebensversicherung „am Ende“ wäre, ist angesichts stabiler Beitragseinnahmen und Neuvertragszahlen aber weit hergeholt.

Die Solvenzquoten sind entscheidend

Im Zentrum der Diskussion um die wirtschaftliche Lage der Lebensversicherer stehen die Solvenzquoten. Diese sind nach regulatorischen Vorgaben von Solvency II zu berechnen und sollen sicherstellen, dass die Unternehmen in modellhaften Extremszenarien genügend Eigenmittel haben, um allen Verpflichtungen nachkommen zu können. Dazu muss die Solvency Capital Requirement (SCR) Quote stets mindestens 100 Prozent betragen.

Allerdings gibt es widersprüchliche Einschätzungen dazu, wie die Quoten methodisch richtig zu berechnen und zu interpretieren sind. Ein klassisches Beispiel ist die Bewertung von Rückstellungen anhand möglicher Übergangsmaßnahmen. Zudem können neben der Standardformel auch eigene, von der Aufsicht genehmigte Modelle verwendet werden. Hinzu kommt, dass neben Solvency II auch Regeln zur Berechnung der Rückstellungen nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) und den Internationalen Standards (IFRS) bestehen. All das bedeutet am Ende folgendes: Die Sache ist im Detail ziemlich kompliziert.

Auf Basis der offiziellen SCR-Zahlen lagen die Quoten mit zuletzt durchschnittlich 423 bzw. 276 Prozent deutlich über dem Mindestwert. [3] Selbst unter Annahme einer starken Verschlechterung der Werte infolge der Corona-Belastungen scheint in der aggregierten Betrachtung also genügend Puffer zu bestehen. Allerdings streuen die Solvenzquoten der einzelnen Gesellschaften sehr stark, sodass sich nicht ausschließen lässt, dass einzelne Versicherer in Schwierigkeiten geraten. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass eine zweistellige Anzahl von Unternehmen unter genauer Beobachtung der BaFin steht.

Was ist mit den Altbeständen?

Ein Problem vieler Lebensversicherer vor allem in Deutschland sind teils hohe Altbestände mit Garantieversprechen aus früheren Zeiten mit üppigen Zinsen. Um diese bedienen zu können, müssen Reserven angelegt werden.

Ein vereinfachtes Beispiel: Ein Lebensversicherer erhält einen Einmalbeitrag vom Kunden und garantiert nach zehn Jahren eine Auszahlung von 10.000 Euro. Wird zu Vertragsbeginn mit einem Rechnungszins von vier Prozent kalkuliert, ist dafür eine Deckungsrückstellung von 6.756 Euro zu reservieren. Fällt später die wahrscheinlich erzielbare Rendite, die anhand des Referenzzinses bemessen wird, sind weitere Deckungsrückstellungen zu bilden (Zinszusatzreserve). Der Referenzzins orientiert sich an den Kapitalmarktzinsen für sichere Anlagen der jeweils letzten zehn Jahre und ist stetig gesunken, sodass sich die Zinszusatzreserve fortlaufend erhöht hat.

erforderliche Deckungsrückstellung
Bild 2) Zinszusatzreserve

Die Zinszusatzreserve (ZZR) stellt sicher, dass die früheren Zinsgarantien bedient werden können. Allerdings muss das Geld dafür irgendwoher kommen – aus den aktuellen Überschüssen und notfalls aus der Auflösung stiller Reserven, also dem Verkauf der deutlich im Kurs gestiegenen Anleihen aus den „guten“ Zeiten mit hohen Kupons. [4] Die ZZR ist also ein zweischneidiges Schwert. Mit deren Reform im Jahr 2018 wurde zwar der weitere Aufbau der dafür notwendigen Mittel erheblich gebremst, aber die Last ist und bleibt für viele Lebensversicherer hoch. [5]

Da sich das Weiterführen der Altbestände kaum noch lohnt und die Garantien eine Belastung für das laufende Geschäft sind, prüfen die Konzerne, ob sich die Bestände an darauf spezialisierte Run-Off-Gesellschaften veräußern lassen. Auf diese Weise könnte man sich von der Last befreien und gleichzeitig Kapital aus den angehäuften Reserven freisetzen. [6] Allerdings würde das wohl auch zu Lasten der betroffenen Kunden gehen. Alternativ bleibt nur der Lichtblick, weiter durchzuhalten, bis jüngere Verträge mit niedrigen Garantien die Oberhand gewinnen bzw. sich herausstellt, dass die ZZR nicht in vollem Umfang benötigt wird und wieder abnimmt – doch das kann noch Jahre dauern.

Fazit

Viele Menschen sind auf der Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau – einer attraktiven Rendite ohne Risiko, also mit dauerhafter Garantie der eingezahlten Beiträge. Um diese Nachfrage zu bedienen, haben sich vor allem deutsche Versicherer in den 80er und 90er Jahren mit zu hohen, bis heute gültigen Garantien verkalkuliert, was sich im aktuellen Niedrigzinsumfeld rächt.

Nach herrschender, regulatorisch relevanter Meinung ist die Branche dennoch insgesamt stabil. So kommt die BaFin zu dem Schluss, dass die Situation „nicht existenzbedrohend“ ist, und die europäische Aufsichtsbehörde EIOPA spricht von einer „gut kapitalisierten, schockresistenten Branche“. [6]

Trotzdem muss die Stabilität kritisch hinterfragt werden, wurde der Branche doch in Deutschland bereits durch Reformen in den letzten Jahren unter die Arme gegriffen. Und es stellt sich noch eine andere, ganz grundsätzliche Frage: Wie sieht die Zukunft eines Geschäftsmodells aus, das sich einst wie eine Erfolgsgeschichte las, aber den Kunden heute nur noch wenig Rendite bei gleichzeitig hohen Kosten bietet?

Quellen

[1] Das Investment (2020), „Lebensversicherung zur Altersvorsorge ist legaler Betrug“, https://www.dasinvestment.com/bdv-teilt-aus-lebensversicherung-zur-altersvorsorge-ist-legaler-betrug-1/, Zugriff am 11.11.2020
[2] Versicherungswirtschaft heute (2020), Die Lebensversicherung ist mal wieder der Prügelknabe – aber der Widerstand erstarkt, https://versicherungswirtschaft-heute.de/unternehmen-und-management/2020-07-14/die-lebensversicherung-ist-mal-wieder-der-pruegelknabe-aber-der-widerstand-erstarkt/, Zugriff am 18.11.2020
[3] solvencyDATA (2020), Laufende Erfassung der Solvenzquoten, http://www.solvencydata.com/ticker, Zugriff am 18.11.2020
[4] Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Zinszusatzreserve – Finanzierung und Auswirkungen auf die Überschussbeteiligung, https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Fachartikel/2017/fa_bj_1708_Zinszusatzreserve.html, Zugriff am 22.11.2020
[5] Zinszusatzreserve ist Fass ohne Boden – Neuer Referenzzins bekannt, https://www.bundderversicherten.de/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilungen/zinszusatzreserve-ist-fass-ohne-boden-neuer-referenzzins-bekannt, Zugriff am 11.11.2020
[6] Versicherungswirtschaft heute (2020), Problemfall Lebensversicherung: Der große Aufkauf rückt näher, https://versicherungswirtschaft-heute.de/schlaglicht/2020-06-19/problemfall-lebensversicherung-der-grosse-aufkauf-rueckt-naeher/, Zugriff am 18.11.2020

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