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21
12
2021

Diskretionär vs. Quant - Ein Gedankenexperiment.

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Gibt es Dinge, die erfahrene, diskretionäre Anleger grundsätzlich besser verstehen und anwenden können als rein quantitative Manager? In diesem Beitrag betrachten wir diese Frage aus einer ganz neuen, ungewohnten Perspektive.

Der Philosoph und Instagrammer Jonny Thomson beschreibt in seinem Artikel „Inside Mary’s Room: Is A Physical World All There Is?“ ein interessantes Gedankenexperiment. [1] Es ist schon rund 40 Jahre alt und stammt vom australischen Philosophie-Professor Frank Cameron Jackson, der es „What Mary Didn’t Know“ (Was Mary nicht wusste) nannte.

Schwarz-Weiß + Rot

Thomson beschreibt es wie folgt: Stellen wir uns eine Neurowissenschaftlerin namens Mary vor, die in einer völlig schwarz-weißen Welt lebt. Sie ist hochintelligent und hat Bücher und einen Computer zur Verfügung. Sie verbringt ihre Tage damit, alles zu lernen, was es über die Farbe Rot zu lernen gibt. Sie kennt die Wissenschaft der Lichtwellen und weiß, wo Rot im elektromagnetischen Spektrum liegt, wie das Auge das Licht aufnimmt und wie Informationen an das Gehirn weitergeleitet werden. Sie weiß alles über den Teil des Gehirns, der die Farbe Rot interpretiert. Doch damit nicht genug. Sie kennt auch alle Assoziationen, die damit verbunden sind, wie Krieg, Liebe und Gefahr. Sie liest über rote Dinge wie Erdbeeren, einen Sonnenuntergang am Mittelmeer und Blut. Kurzum, Mary kennt alle physikalischen Fakten und auch sonst alles über die Farbe Rot, was es zu wissen gibt.

Aber sie hat es noch nie selbst gesehen, dieses Rot.

Was Mary nicht wusste

Stellen Sie sich nun vor, dass Mary eines Tages aus ihrer schwarz-weißen Welt entlassen wird – und eine rote Rose sieht. Die Frage lautet nun: Lernt Mary dadurch etwas Neues? Erweitert das Sehen von Rot ihr Verständnis für die Farbe? Empfindet sie etwas, das sie zuvor unmöglich hätte empfinden können?

Wenn wir davon ausgehen, dass sie tatsächlich etwas Neues lernt, dann bedeutet das, dass sich die Welt mit materiellen Fakten oder Beschreibungen nicht vollständig abbilden lässt. Es bedeutet, wie Jonny Thomson schreibt, dass es mehr gibt im Leben als die physische Welt: Es gibt unser Gefühl für etwas bzw. das, was Philosophen als „Qualia“ bezeichnen, unser phänomenales Bewusstsein. Damit ist der subjektive Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes gemeint, der im Zusammenhang mit den auslösenden physiologischen Reizen steht – also etwa das Erleben der Farbe, das keinen materiellen Zustand darstellt. [2, 3] Oder anders formuliert: Hinter Begriffen wie Rot, Trauer und Liebe steckt mehr, als man jemals durch theoretisches Studium erfahren kann.

Theorie vs. Praxis

Das Ganze lässt sich natürlich erweitern. Kann man aus allen Büchern, Aufzeichnungen und Gesprächen von Verliebten lernen, wie es ist, verliebt zu sein? Oder durch Studium aller Fakten und Berichte über Kriege erfahren, wie es ist, sich im Krieg zu befinden?

Kann man lernen, wie es sich anfühlt, an der Börse zu investieren, indem alle verfügbaren Informationen und Zusammenhänge ausgewertet werden? Lernt man dadurch wirklich, wie es sich anfühlt, einen Crash zu erleben, hohe Kursgewinne zu erzielen oder die wildesten Schwankungen bei Kryptowährungen auszuhalten?

Letztlich sind es genau diese subjektiven, positiven wie negativen Erfahrungen, die das tatsächliche Handeln vieler Menschen auf Jahre hin prägen. Seien es Telekom-Aktionäre, die bis heute auf den Verlusten der Blase vor mehr als 20 Jahren sitzen oder junge, naive Spekulanten, die in Meme-Aktien wie GameStop investieren, ohne mit der Wimper zu zucken.

Diskretionär vs. Quant

Das Gedankenexperiment stellt letztlich infrage, ob sich das Universum tatsächlich vollständig auf physikalische Beschreibungen reduzieren lässt. Wenn das der Fall wäre, müssten quantitative Handelsstrategien den diskretionären Ansätzen überlegen sein. Wer dagegen annimmt, dass sich bestimmte Details einer exakten Beschreibung durch Regeln und Gesetze entziehen, kann damit begründen, weshalb erfahrene Profis durchaus besser als Quant-Manager abschneiden können. Das gilt vor allem dann, wenn Überraschungen passieren – und die gibt es an den Märkten häufiger. Diskretionäre Manager können ihre bestehenden Erfahrungen dann flexibel auf neue Rahmenbedingungen anwenden. Aber wird sich eine Maschine diese komplexe Fähigkeit jemals selbst beibringen können?

Subjektives Erleben

Wie ist nun der Stand der Dinge, fast 40 Jahre nach Veröffentlichung von Mary’s Room? Jonny Thomson schreibt, dass Jackson sein damaliges Argument ironischerweise selbst zurückgewiesen hat. Er glaubt also nicht mehr, dass Mary etwas Neues über die Welt lernt, wenn sie ihre schwarz-weiße Vergangenheit verlässt. Stattdessen denkt er aber, dass sie etwas Neues über sich selbst lernt, indem sie die Farbe Rot erlebt. Genau das ist, was ihr subjektives Erleben beschreibt.

Auch an der Börse erfahren wir diesen Effekt regelmäßig: In Wahrheit lernen wir nichts Neues über die Welt, sondern über uns selbst. Aber passt das subjektive Erleben in eine ansonsten physikalisch beschreibbare Welt? Jackson glaubt ja: Wenn wir die gesamte Neurobiologie und das Verhalten, das mit der Farbe Rot verbunden ist, reproduzieren könnten – was wir im Moment nicht können –, so wäre es auch möglich, dieselben Qualia zu reproduzieren. Wir würden alle dieselbe Farbe erleben. [1]

Auf die Börse übertragen bedeutet das: Wenn man alle menschlichen Gedankengänge und Verhaltensweisen – auch die schlechten – quantifizieren könnte, würden Algorithmen auch zu genau den gleichen Entscheidungen kommen wie diskretionäre Anleger. Die Welt der vollständig objektiven Physik wäre damit gerettet.

Wenn wir annehmen, dass sich letztlich alles physikalisch beschreiben lässt, können wir subjektive Emotionen dann jemals sinnvoll in diese Welt einordnen oder vom wissenschaftlichen Standpunkt aus vollständig verstehen?

Fazit

Das Gedankenexperiment dreht sich um einen Knackpunkt zwischen den ansonsten weit auseinanderliegenden Wissenschaften von Philosophie und Physik: Wenn wir annehmen, dass sich letztlich alles physikalisch beschreiben lässt, können wir subjektive Emotionen dann jemals sinnvoll in diese Welt einordnen oder vom wissenschaftlichen Standpunkt aus vollständig verstehen? Oder wird es immer etwas geben, das uns als Menschen von der Summe aller objektiven Informationen unterscheidet? Bringen uns Erfahrungen und Gefühle also etwas bei, das wir niemals aus Büchern, Filmen oder Gesprächen lernen können? Gibt es Dinge, die erfahrene, diskretionäre Anleger auch in Zukunft besser verstehen und anwenden können als rein quantitative Manager? Die nüchterne, objektive Antwort darauf lautet „nein“, die subjektive dagegen „ja“.

Was das Gedankenexperiment zeigt, ist, dass es eine riesige Kluft gibt zwischen der Art und Weise, wie die Welt beschrieben wird, und dem, wie wir sie empfinden. Die Frage ist, ob sich diese Kluft überbrücken lässt. Jonny Thomson kommt zu der Überzeugung, dass sich die Welt nicht vollständig auf physikalische Zusammenhänge reduzieren lässt. Er schreibt, dass etwas Besonderes und Einzigartiges passiert, wenn wir die Dinge subjektiv erleben, anstatt nur theoretisch darüber zu lernen. Selbst der größten Enzyklopädie des Universums, erstellt von einer „intergalaktischen superintelligenten KI“, wird demnach immer eines fehlen: Was es bedeutet, eine menschliche Erfahrung zu machen.

Quellen

[1] Thomson, J., Inside Mary’s Room: Is A Physical World All There Is?, Zugriff am 08.12.2021, https://bigthink.com/mind-brain/inside-marys-room-physical-world
[2] Wikipedia, Frank Cameron Jackson, Zugriff am 08.12.2021, https://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Cameron_Jackson
[3] Wikipedia, Qualia, Zugriff am 08.12.2021, https://de.wikipedia.org/wiki/Qualia

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