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04
2021

Nullzinskrise bei den Lebensversicherungen. Teil 3: Die Wurzeln des Problems.

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Bei Aufsichtsbehörden und Experten aus Forschung und Praxis sind dauerhaft niedrige Zinsen schon lange als Problem für Lebensversicherer bekannt. Dieser Artikel beschreibt die entscheidenden Stellschrauben.

Das Problem ist lange bekannt

Lebensversicherer konnten mit ihrem großen, trägen Hauptgeschäft viele Jahre profitabel arbeiten, ohne sich abseits strategischer und taktischer Adjustierungen großartig anpassen zu müssen. Doch diese Zeiten sind längst vorbei.

Schon im Jahr 2015 bestand dem Financial Stability Review der EZB zufolge allgemeiner Konsens, dass dauerhaft niedrige Zinsen das Hauptrisiko für europäische Versicherer sind. Insgesamt besteht dem Bericht zufolge ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen langfristigen Anleiherenditen und der Rentabilität der Versicherer. [1]

Das Hauptproblem: Aus früheren Zeiten bestehende Lebensversicherungsverträge sind in Europa und vor allem in Deutschland durch hohe garantierte Renditen gekennzeichnet. In Zeiten dauerhaft niedriger Zinsen kann das zur Bedrohung für die Profitabilität, aber auch die Solvenz der Unternehmen werden – vor allem dann, wenn die Altverträge einen hohen Anteil ausmachen.

Zwei Kanäle

Konkret wirken sich die Niedrigzinsen über den Einkommens- und den Bilanzkanal aus.

Auswirkungen der Niedrigzinsen über den Einkommenskanal:

Über den Einkommenskanal leiden die Kapitalerträge der Versicherer. Die Ursache: Der Netto-Cashflow, der sich aus den gezahlten Prämien der Kunden sowie fällig werdenden Anlagen ergibt, muss nach und nach zu niedrigeren Zinsen reinvestiert werden. Das heißt aber auch, dass sich dieser Effekt nur langsam entwickelt. Kleinere und mittelgroße, nicht in andere Geschäftsbereiche diversifizierte Lebensversicherer sind in der Regel stärker exponiert. [1]
Fälligkeitsstruktur Assets Liabilities
Bild 1) Fälligkeitsstruktur von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten
Die Grafik zeigt schematisch den Zusammenhang der Restlaufzeiten (in Jahren) von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten in der Bilanz. Die Duration kann dagegen je nach Zinsniveau variieren.
Quelle: Berdin, E. / Gründl, H. (2015), The Effects of a Low Interest Rate Environment on Life Insurers, SAFE Working Paper No. 65, S. 44

Auswirkungen der Niedrigzinsen über den Bilanzkanal:

Über den Bilanzkanal wirken sich niedrige Zinsen anhand der Marktbewertungen direkt und unmittelbar auf die Bilanz der Versicherer aus. Infolge der fallenden Zinsen und des entsprechenden Kursanstiegs der bestehenden Anleihen erhöhten sich zwar die Aktiva, aber durch den parallelen Diskontierungseffekt auch die aufgrund längerer Duration schwerer wiegenden Passiva. Bei marktkonformer Bewertung, wie sie in Solvency II vorgeschrieben ist, sind deshalb Versicherer mit großem Durations-Missverhältnis am anfälligsten für diesen Kanal.
lebensversicherungen_duration missverhältnis
Bild 2) Auswirkungen eines Missverhältnisses
Aufgrund des langfristigen Horizonts können Lebensversicherer ihre Anlagen in der Regel bis zur Fälligkeit halten und Marktschwankungen aushalten. Das gilt aber nur, wenn sie ein gut ausbalanciertes Asset-Liability-Management fahren. Das war und ist bei den deutschen Versicherern aber nicht der Fall. Die Grafik zeigt exemplarisch die Auswirkungen eines (sehr großen) Durations-Mismatchs auf den Gegenwartswert von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten, wenn ein Zinsrückgang um 200 Basispunkte erfolgt.
Quelle: Löfvendahl, G. / Yong, J. (2017), Insurance Supervisory Strategies for a Low Interest Rate Environment, FSI Insights on Policy Implementation No 4, S. 5

Auch dieses Problem ist lange bekannt. Schon im Jahr 2014 zeigte ein Stresstest der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA, dass Versicherer aus Deutschland und Österreich mit rund zehn Jahren die höchsten Mismatches aufwiesen. [1] Auch im Jahr 2019 zeigte das Financial Stability Review der Bundesbank, dass die deutschen Lebensversicherer ihren Kunden zu lange Garantien versprochen haben. Die Schlussfolgerung des Berichts lautete deshalb, dass niedrige Zinsen nach wie vor das Hauptrisiko der Lebensversicherer sind. [2]

Niedrige Zinsen nach wie vor das Hauptrisiko der Lebensversicherer.
Deutsche Bundesbank (2019), Financial Stability Review 2019, S. 55

Gesucht: Rendite und Duration

Was den Einkommenskanal angeht, hat die anhaltende Niedrigzinsphase zu einer Suche nach Rendite geführt. Auslaufende, hochverzinsliche Anleihen müssen reinvestiert werden, aber die Auswahl an attraktiven Wiederanlagen wurde zunehmend kleiner. Früher konnten die Versicherer von der steilen Zinsstruktur profitieren und Kunden attraktive, langfristige Renditen versprechen. Heute sind dagegen höhere Risiken zu akzeptieren, um überhaupt noch nennenswerte Renditen zu erzielen – etwa in illiquiden Anlagen wie Infrastruktur, Immobilien und Private Equity, oder aber in Aktien. Der Corona-Schock hat die Risiken noch verstärkt, indem die risikofreien Zinsen und Renditen für hohe Kreditqualität weiter sanken und gleichzeitig die Unsicherheiten sowie die Risikoprämien für risikoreichere Anlagen zunahmen. [3]

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Bild 3) Asset Allocation von Lebensversicherern
Die Grafik zeigt die Asset Allocation von Lebensversicherern in verschiedenen europäischen Ländern.
Quellen: Stephan, V. / Illouz, B. (2020), Covid-19 Crisis: Assessing the Impact of Market Volatility on European Insurers, J.P. Morgan Asset Management, S. 2; EIOPA (Januar 2020)

Interessant ist dabei ein Aspekt der Studie „Interest Rates and Insurance Company Investment Behavior“, auch wenn diese sich auf den strukturell abweichenden US-Markt bezieht. Dort wurde gezeigt, dass US-Versicherer ihre Portfolios bei fallenden Zinsen in höher rentierende Anleihen umschichten, was der beschriebenen Suche nach Rendite zu entsprechen scheint. Die Autoren stellen jedoch fest, dass die Umschichtungen wohl in erster Linie durch den Anstieg der Duration bedingt sind, da sich das Kreditrisiko nicht erhöhte. Statt der oft genannten Suche nach Rendite könnte es sich deshalb eher um eine Suche nach längerer Duration handeln – mit dem Ziel, eine Durationslücke nahe null zu erreichen und niedrigere regulatorische, risikobasierte Kapitalanforderungen zu genießen. [4] Ähnlich ist es in Europa unter Solvency II. Auch hier sind die Kapitalanforderungen ein starker Anreiz für Versicherer, die Duration von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten möglichst gut aufeinander abzustimmen.

Das Verhalten der Kunden

Bezieht man das Verhalten der Kunden in die Betrachtung ein, erhöht sich die Komplexität des Themas weiter. Viele Versicherungen bieten die Möglichkeit, nach eigenem Ermessen zusätzliche Mittel einzuzahlen oder einen Vertrag gegen eine vorher festgelegte Zahlung zu beenden. Dabei ist es wahrscheinlicher, dass Kunden diese Optionen nutzen, wenn sich die Zinsen im Zeitablauf deutlich verändert haben. So verringert sich im Niedrigzinsumfeld die Wahrscheinlichkeit, dass Altverträge vorzeitig gekündigt werden, während sich die Wahrscheinlichkeit von zusätzlichen Einzahlungen erhöht. Insgesamt steigt dadurch aus Sicht des Versicherers die Duration der Verbindlichkeiten. Um gegenzusteuern, muss die Suche nach Duration auf der Anlageseite verstärkt werden, was wieder mit dem bekannten Renditeproblem einhergeht. [4]

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Bild 4) Reaktion auf Niedrigzinsumfeld
Die Grafik zeigt, wie Versicherer weltweit sowohl im Neugeschäft (links) als auch bei Altverträgen auf das Niedrigzinsumfeld reagierten. Grundlage ist eine Erhebung unter 27 nationalen Aufsichtsbehörden.
Quelle: Löfvendahl, G. / Yong, J. (2017), Insurance Supervisory Strategies for a Low Interest Rate Environment, FSI Insights on policy implementation No 4, S. 23-24; BIS Survey

Schwarzmalerei

Es ist sicher nicht übertrieben, zu behaupten, dass die dauerhaften Niedrigzinsen eine enorme Herausforderung für die Branche darstellen. So wiesen bereits frühere Studien im Konsens auf wahrscheinlich negative Auswirkungen einer langen Niedrigzinsphase für die Solvenz der Versicherer hin. Allerdings haben sich Zukunftsszenarien, in denen zu sehr schwarzgemalt wurde, bisher nicht bewahrheitet. So wurde in einer Untersuchung schon für die Jahre 2016 bzw. 2017 ein erhöhtes Pleiterisiko für einen großen Teil der deutschen Versicherer vermutet, was trotz weiter gefallener Zinsen nicht eintrat. [5]

Dem lässt sich entgegnen, dass die Pleiten nur durch regulatorische Anpassungen in den letzten fünf Jahren verhindert wurden. Insbesondere wurde im Jahr 2018 die Verordnung zur Zinszusatzreserve überarbeitet, sodass diese vorsorgliche Bilanzposition langsamer aufgebaut wird. Für sich genommen reduzierte das den Anreiz, in schlechten Phasen höher verzinste Wertpapiere aus früheren Zeiten zu verkaufen. Inzwischen wurde die Entlastung durch die weiter gefallenen Zinsen jedoch weitgehend neutralisiert. [2] Das Beispiel zeigt, dass regulatorische Eingriffe – auch für die Zukunft – ein entscheidender Faktor sind, der sich in Szenariorechnungen nur schwer antizipieren lässt.

Fazit

Anhaltende Niedrigzinsen sind ein systemisches Risiko der Lebensversicherungsbranche. Die Kombination aus niedrig rentierender Reinvestition (Einkommenskanal) und negativer Durationslücke (Bilanzkanal) dürfte die mittel- bis langfristige Rentabilität der Versicherer weiterhin belasten. [3] Gleichzeitig erklären diese Faktoren, warum etwa die Ausgabe der 100-jährigen österreichischen Staatsanleihe im Herbst 2017 so erfolgreich war: Sie stellte eine Kombination aus noch halbwegs vertretbarem Kupon (2,1 Prozent) und extrem langer Duration dar. Im Sommer 2020 wiederholte das Land dieses Spiel – diesmal jedoch mit einem Kupon von nur 0,85 Prozent. [6]

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Lebensversicherer es lange versäumt haben – und zum Teil durch regulatorische Vorschriften dabei eingeschränkt wurden –, in rentablere Anlagen wie Aktien zu investieren. Ein Grund dafür war und ist die Sorge, dass in einer Rezession die Kurse von Aktien und Unternehmensanleihen gleichzeitig fallen. Weiterhin haben die Lebensversicherer rückblickend den Fehler gemacht, in guten Zeiten zu optimistisch kalkuliert zu haben und auf Jahrzehnte hin üppige Garantien zu versprechen. Daraus resultierte ein systematisches Missverhältnis der Duration der Vermögenswerte in der Kapitalanlage im Vergleich zu den Verbindlichkeiten gegenüber Kunden. Am stärksten betroffen sind kleine und mittelgroße Lebensversicherer, deren Anlagen vor allem in Staatsanleihen bestehen und die viele Altverträge mit hohen, starren Garantien aufweisen.

Quellen

[1] Europäische Zentralbank (2015), Euro Area Insurers and the Low Interest Rate Environment, in: Financial Stability Review November 2015, S. 134-146
[2] Deutsche Bundesbank (2019), Financial Stability Review 2019, S. 55
[3] EIOPA (2020), Impact of Ultra Low Yields on the Insurance Sector, Including First Effects of Covid-19 Crisis, S. 4
[4] Ozdagli, A. / Wang, Z. (2019), Interest Rates and Insurance Company Investment Behavior, Federal Reserve Bank of Boston & Harvard Business School
[5] Berdin, E. / Gründl, H. (2015), The Effects of a Low Interest Rate Environment on Life Insurers, SAFE Working Paper No. 65
[6] Österreich begibt wieder 100-jährige Anleihe – Kupon nur 0,85 Prozent, FONDS professionell Multimedia, https://www.fondsprofessionell.de/news/maerkte/headline/oesterreich-begibt-wieder-100-jaehrige-anleihe-kupon-nur-085-prozent-198679/, Zugriff am 22.12.2020

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